Es ist Dienstag – Herzlich willkommen zur Andacht

Gerechtigkeit

Es gibt Themen, bei denen kennt sich jeder aus. Die Gerechtigkeit ist so ein Thema. Jeder Schüler, jede Schülerin weiß: Wenn zwei Klassenkameraden eine gleich gute Arbeit schreiben und die Lehrerin dem einen dafür eine Zwei gibt, dem anderen eine Drei, dann ist das ungerecht. Man muss dazu nicht erklären können, was Gerechtigkeit überhaupt ist. Die Gerechtigkeit zu erklären, ist gar nicht einfach. Aber auch nicht nötig – jedenfalls nicht in einem so klaren Fall. Wenn alle Fälle so klar wären, ginge es wahrscheinlich gerechter auf der Welt zu. Denn niemand, die Lehrerin nicht und auch sonst niemand, lässt sich gern nachsagen, sie oder er wäre ungerecht.

Leider liegen die Dinge nicht immer so klar. Nehmen wir an, der eine Klassenkamerad, der die Arbeit schreibt, konnte zu Hause mit seinen Eltern üben, der andere nicht. Trotzdem wird  seine Arbeit genauso gut. Wer hat jetzt welche Note verdient? Der zweite Schüler hat ja im Grunde mehr geleistet als der andere. Soll die Lehrerin das berücksichtigen? Oder darf nur das Ergebnis gelten, die fertige Arbeit, egal wie viel Mühe dahintersteckt? Noch komplizierter wird die Sache in einer Geschichte, die Jesus im Matthäusevangelium erzählt. Die Geschichte beginnt so:

„Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Weinbergbesitzer, der früh am Morgen einige Leute für die Arbeit in seinem Weinberg einstellte. Er einigte sich mit ihnen auf den üblichen Tageslohn von einem Silberstück. Dann schickte er sie in den Weinberg.“

Jesus erzählt ein Gleichnis. Das macht der erste Satz deutlich: „Das Himmelreich gleicht einem Weinbergbesitzer.“ Der Satz zeigt, worum es eigentlich geht – nicht um einen Weinberg, sondern um das Himmelreich, die neue Welt, die Gott schafft. Darüber will Jesus etwas mitteilen, und damit man ihn besser versteht, benutzt er als Beispiel den Weinbergbesitzer, der morgens um sechs auf den Marktplatz geht, um Arbeiter für den Tag anzuwerben. Den Weinbergbesitzer kann man sich leicht vorstellen; das Himmelreich, Gottes neue Welt, kennen wir noch nicht. Das soll sich durch das Gleichnis ändern. So funktionieren Gleichnisse. Sie verdeutlichen eine unbekannte Sache mit Hilfe einer bekannten. Lesen wir also, wie es mit dem Weinbergbesitzer weitergeht.

„Um neun Uhr ging er wieder auf den Marktplatz und sah dort noch ein paar Leute arbeitslos herumstehen. Er sagte zu ihnen: ‚Ihr könnt in meinem Weinberg arbeiten. Ich will euch angemessen bezahlen.’ Und sie gingen hin. Genauso machte er es mittags und gegen drei Uhr. Als er um fünf Uhr das letzte Mal zum Marktplatz ging, fand er immer noch einige herumstehen und fragte sie: ‚Warum tut ihr den ganzen Tag nichts?’ Sie antworteten: ‚Weil uns niemand eingestellt hat.’ Da sagte er: ‚Dann geht auch ihr noch und arbeitet in meinem Weinberg.’“

Der Weinbergbesitzer, der die Tagelöhner einstellt, ist zu der Zeit, in der die Geschichte spielt, der normale Arbeitgeber. Seine Arbeiter bekommen keine langfristigen Verträge, sondern werden von Fall zu Fall angeworben, je nachdem wie viel Arbeit es gerade gibt. Auffällig an dem Weinbergbesitzer in der Erzählung ist allerdings, dass er die Leute, die er für diesen Tag braucht, nicht auf einmal anstellt, und zwar morgens früh. Stattdessen geht er insgesamt fünfmal auf den Marktplatz und engagiert die letzten Arbeiter erst eine Stunde vor Feierabend. Erklärt wird dieser ungewöhnliche Umstand nicht. Er wird aber wichtig für die Erzählung. Dort passiert Folgendes:

„Am Abend sagte der Weinbergbesitzer zu seinem Verwalter: ‚Ruf die Leute zusammen und zahl ihnen ihren Lohn. Fang bei denen an, die zuletzt gekommen sind, und hör bei den Ersten auf.’ Die Männer, die erst um fünf Uhr angefangen hatten, traten vor, und jeder bekam ein Silberstück. Als nun die an der Reihe waren, die ganz früh angefangen hatten, dachten sie, sie bekämen mehr. Aber auch sie erhielten jeder ein Silberstück.“

Mit der Gerechtigkeit kennt sich jeder aus, haben wir gesagt. Unsere erste Erwartung war vermutlich: Wer mehr arbeitet, hat auch mehr verdient; wer weniger arbeitet, bekommt daher weniger. Mit den Leuten, die er zuerst eingestellt hat, hat sich der Weinbergbesitzer auf den üblichen Tageslohn von einem Denar geeinigt, einem Silberstück. Davon können sie ihre Familien ernähren. Die anderen, die erst später angefangen haben, müssen zusehen, wie sie mit weniger zurechtkommen. Das ist bedauerlich, scheint aber gerecht zu sein.

Diese erste Erwartung wird jedoch enttäuscht – eine erfreuliche Enttäuschung, eine schöne Überraschung. In der Geschichte, die Jesus erzählt, bekommen auch die Tagelöhner, die erst kurz vor Feierabend mit der Arbeit begonnen haben, den vollen Tageslohn. Auch ihre Kinder brauchen nicht hungrig ins Bett zu gehen. Ein Happy End, könnte man meinen. Nur dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist.

Die schöne Überraschung  weckt nämlich sogleich eine zweite Erwartung: „Als nun die an der Reihe waren, die ganz früh angefangen hatten, dachten sie, sie bekämen mehr.“ Natürlich denken sie das. Genau wie wir. Wer mehr arbeitet, hat mehr verdient, denken wir, und rechnen damit, dass auch die anderen Arbeiter besser bezahlt werden als ursprünglich gedacht. Das wäre nur gerecht. Doch diese zweite Erwartung wird wieder enttäuscht. Auch die Arbeiter, die zwölf Stunden gearbeitet haben, bekommen jeder ein Silberstück.

„Da schimpften sie über den Weinbergbesitzer und sagten: ‚Die anderen haben nur eine Stunde lang gearbeitet, und du behandelst sie genauso wie uns? Dabei haben wir den ganzen Tag in der Hitze geschuftet.’ Aber der Weinbergbesitzer sagte zu einem von ihnen: ‚Mein Lieber, ich tue dir kein Unrecht. Hatten wir uns nicht auf ein Silberstück geeinigt? Das hast du bekommen, und nun geh. Ich will nun einmal dem Letzten hier genauso viel geben wie dir. Ist es nicht meine Sache, was ich mit meinem Eigentum mache? Oder bist du neidisch, weil ich großzügig bin?’“

Beim Thema Gerechtigkeit kennt sich jeder aus, dachten wir. Kennen wir uns noch aus? Blicken wir vom Ende der Geschichte noch einmal auf den Anfang. „Bist du neidisch, weil ich großzügig bin?“, fragt der Weinbergbesitzer im letzten Satz; und im ersten Satz seiner Erzählung sagt Jesus: „Das Himmelreich gleicht diesem Weinbergbesitzer.“ Beide Sätze gehören zusammen. Ohne den letzten verstehen wir den ersten nicht und ohne den ersten nicht den letzten. Der Anfang der Erzählung sagt uns, worum es eigentlich geht: nicht um einen Weinberg und seinen Besitzer, sondern um das Himmelreich und damit um Gott. Aber erst am Schluss wird klar, was den Weinbergbesitzer aus der Geschichte mit Gott verbindet, nämlich die Großzügigkeit, mit der sich Gott um uns kümmert. Wie der Weinbergbesitzer dafür sorgt, dass alle seine Arbeiter bekommen, was sie zum Leben brauchen, unabhängig davon, was sie geleistet haben, sorgt Gott dafür, dass das Himmelreich allen offen steht. Wir brauchen es uns nicht zu verdienen.

Wenn wir das Gleichnis so verstehen, merken wir, dass es von zwei Arten der Gerechtigkeit handelt: von unserer Gerechtigkeit, unseren Erwartungen, und von Gottes Gerechtigkeit, die unsere Erwartungen übertrifft. Unsere Gerechtigkeit setzt auf Leistung. Gottes Gerechtigkeit fragt nach unseren Bedürfnissen. In der neuen Welt, die er schafft, kommt niemand zu kurz. Die Geschichte, die Jesus erzählt, lenkt unseren Blick von der Frage, was wir verdient haben, auf die Frage, was wir Gott wert sind. Auf diese Frage antwortet das Gleichnis: Was wir wert sind, bekommen wir geschenkt.

Euch allen einen schönen Tag und eine schöne Woche!

Euer Martin Schewe

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